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Grüne Klimafassaden – Utopie und Wirklichkeit

Grüne Klimafassaden - Titelseite

Fassadenbegrünung gab es – historischen Quellen nach – schon im alten Ägypten. Damals wurden bevorzugt Nutzpflanzen, vor allem Weinreben, angebaut. Nachvollziehbar, dass sich eine Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau in heutiger Zeit diesem Thema verpflichtet fühlt. Im Unterschied zur Antike versuchen wir unser Fassadenglück an der LWG aber (noch) nicht mit Frankenwein, sondern experimentieren aktuell mit einer Produktpalette aus Salaten, Kräutern und Gemüsearten.

2019, 11 Seiten

Dank spektakulärer Architekturprojekte ist Grün an der Wand mittlerweile in aller Munde. Auch in dieser Hinsicht sammelt die LWG seit 2013 zusammen mit Grünclusiv e. V. und vier Systemherstellern in Nürnberg Erfahrungen im Umgang mit “Living Walls“. Gut, dass es zudem noch den Klimawandel gibt. Zumindest für die Begrünungslobby, denn Grün in der Vertikalen beansprucht keinen zusätzlichen Platzbedarf und entfaltet seine Wohlfahrtswirkungen bei entsprechender Versorgungssicherheit auch in heißen Ballungszentren mit hoher Besiedlungsdichte. An der “Klima-Forschungs-Station“ am Hubland forschen Bauphysiker des ZAE Bayern e. V. gemeinsam mit den Mitarbeitern der LWG an der Optimierung von grünen Klimafassaden. Vertikalbegrünungen scheinen also prädestiniert für einen Kampf gegen Hitze, Lufttrockenheit und Feinstaub ..., ja wenn es nur gelänge, das Grün an der Wand auch am Leben zu erhalten. Leider ist das heute – trotz oder vielleicht auch dank technisch notwendigem Support – nicht immer ganz so einfach wie bei den Ägyptern.

Was ist Utopie, was ist Wirklichkeit?

Keine Utopie sondern physikalische Gesetzmäßigkeit ist, dass bei der Verdunstung von 1 m³ Wasser bei einer Lufttemperatur von 45 °C alleine durch Änderung des Aggregatzustandes rund 700 kWh an Energie gebunden werden. Wären in den Stadtzentren ausreichende Wasserreservoirs vorhanden, würde dieser physikalische Effekt der Wärmebindung als natürliche Klimaanlage durchaus Wirkung zeigen. Rein rechnerisch lassen sich z. B. mit einer modernen wandgebundenen Fassadenbegrünung, die nicht nur Transpiration durch die Bepflanzung bietet, sondern auch durch Wasserbevorratung in Systemkomponenten und Einsatz von Technik für eine Bewirtschaftung des Überschusswassers sorgt, in der Vegetationszeit pro Quadratmeter Begrünungsfläche bis zu 136 kWh an Verdunstungs­energie entziehen. Bei Messungen an einer wandgebundenen Begrünung des Musée du Quai Branly in Paris ergaben sich dadurch in der unmittelbaren Umgebung Temperatursenkungen von 1,3 bis 3,5 K (PFOSER, 2014). Aktuelle Untersuchungen am Neubau des Institutes für Physik der Humboldt-Universität Berlin lassen sogar den Schluss zu, dass durch Fassadenbegrünung auf der Südseite und zusätzlichen Einsatz von Regenwasser zur Verdunstungskühlung im Wärmetauscher der Zu- und Abluft bis zu einer Außentemperatur von 30 °C auf konventionell erzeugte Kälte verzichtet werden kann (KÖNIG, 2017).
In Wirklichkeit aber wird in unseren Städten mangels Speichermedien die Solarstrahlung statt in Verdunstung von Wasser oft nur in fühlbare langwellige Strahlung umgesetzt. Verstärkt durch die fehlende Luftbewegung in den Sommermonaten führt dies dann zu immensen inneren Wärmelasten, deren Temperaturunterschiede im Vergleich zum Umland bis zu 10 K betragen können.
Keine Utopie ist mittlerweile auch das reichhaltige Angebot an unterstützender Begrünungstechnik, vor allem wenn es um die Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten geht. Während in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts fast ausschließlich die bodengebundene Fassadenbegrünung ein Thema war, unterscheidet der professionelle Anwender heute zwischen boden- und wandgebundenen Begrünungsformen. Die zwar romantisch anmutende aber bautechnisch nie ganz problemfreie Begrünung mit Selbstklimmern aus Wurzelkletterern wie z. B. [i]Hedera, Campsis[/i] und [i]Hydrangea[/i] oder Haftscheibenrankern wie [i]Parthenocissus tricuspidata[/i] hat dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren zunächst die Gerüstkletterer unter den Kletter­pflanzen eine verstärkte technische Unterstützung erfahren haben. Industrie und Hersteller offerieren mittlerweile von der Gitterwand über das Kletternetz bis zum Seilzugsystem unterschiedlichste Bauteilkomponenten, mit denen sich – nach statischen Vorgaben und baulich konstruktiven Anforderungen planbar – vielfältige Begrünungsoptionen realisieren lassen.
In Wirklichkeit gibt es mittlerweile auch in unseren Breiten einige gelungene Beispiele wandgebundener Begrünung. Leider sind die Herstellungs- und Unterhaltskosten für diese Art der Begrünung aber weiterhin vergleichsweise hoch. Unter 400 € pro m² ist immer noch kein System an die Wand gebracht und mit lebensnotwendiger Infrastruktur für Wasser und Strom versorgt.

Die Kombi-Lösung: Klima­mäßigung mit Genussfaktor

Aufgrund der hohen Investitions- und Unterhaltskosten der Begrünungs­systeme werden bei der Suche nach einem Zusatznutzen vor allem Pflanzen mit speziellem Nutzen interessant: Nahrungspflanzen.
Wenn an den "Living Walls" z. B. auch Gemüse produziert wird, entsteht ein interessanter Mehrwert. Der Wert der Begrünung für das Gebäude könnte dann um den Wert des Ertrags erweitert werden (KÖHLER, 2015). Je nach persönlichem Interesse und jeweiligem Standort sind spezielle Kulturen auszuwählen. Oft werden heute schon essbare Stauden, wie z. B. Thymian, in wandgebundene Fassadenbegrünungen gepflanzt.
Die lokale Nahrungsmittelproduk­tion zeigt sich derzeit im Trend des "Urban Gardening“. Die potenzielle Minderung des CO[sub]2[/sub]-Ausstoßes durch verkürzte Transportwege in der Stadt ist nur ein Teilaspekt dieser ökologischen Begrünungsmethode. Die Anbausysteme ermöglichen sowohl Privatverbrauchern eine Erweiterung des Balkonkastens, als auch dem Einzelhandel und Restaurants ein sehr verbrauchernahes Lebensmittelangebot. Die Qualität von frischen, schlecht lagerbaren Pflanzenteilen, wie z. B. Kräutern und Erdbeeren, ist somit wesentlich besser zu erhalten. Duftende Kräuter bieten auch die Möglichkeit besondere Dufteffekte an Gebäudewände zu bringen: Ein ganz neuer Bezug zur Pflanze und zur Begrünung kann im öffentlichen und privaten Raum entstehen.
Technisch sind die Begrünungssysteme aus Vlies, Gabionen oder Kunststoffformteilen durchaus für Gemüsekulturen wie Salat und Toma­ten geeignet. Es fehlen hingegen teils Erfahrungen und praktische Beispiele zur Pflanzenauswahl und den speziellen Kulturanforderungen von Gemüse an Living Walls. An der LWG wurde deshalb im Sommer 2017 ein Versuch mit vier verschiedenen Begrünungssystemen zu je etwa 6 m² für Gemüsekulturen gestartet.

Der Klassiker: Pflanze trifft Bauwerk, aber wie?

Neben der Nahrungsmittelproduktion fungiert Begrünung bei ausreichender Wasserversorgung als natürliche Klimaanlage, indem die Pflanzen durch Verdunstung der Umgebungsluft Wärme entziehen und somit im Sommer ein kühleres Mikroklima an der Fassade schaffen. Die Nähe der Pflanze zum Bauwerk macht es erforderlich, dass Gebäude und die Vertikalbegrünung nicht nur ein additives System bilden, sondern von Beginn an gemeinsam geplant werden, um eine vernetzte Fassadensystematik zu ermöglichen. Zur Erforschung dieses vorhandenen Potenzials einer Kombination aus Gebäudedämmung und Vertikalbegrünung läuft an der LWG das Projekt "Klima-Forschungs-Station“
Vertikalbegrünung als natürliche Klimaanlage kann nur dann zufriedenstellend funktionieren, wenn das Begrünungssystem und die Pflanzenauswahl optimal an Gebäude und Umgebung angepasst werden. Dazu wird im Gemeinschaftsprojekt "Klima-Forschungs-Station“ mit verschiebbaren Begrünungskonstruktionen gearbeitet, um den optimalen Abstand zwischen Begrünung und Fassade herauszufinden. In diesen Konstruktionen werden ein flächiges und ein rinnenförmiges Begrünungssystem miteinander verglichen und auf ihr Zusammenwirken mit innovativen Fassadenmaterialien (wie z. B. einer schaltbaren Wärmedämmung) untersucht. Zudem wird im Projekt geforscht, inwiefern die Nutzung von Erdwärme im Spalt zwischen Fassade und Begrünung die Dämmsituation und das Pflanzenwachstum beeinflusst und ob eine Hinterlüftung oder ein geschlossener Zwischenraum dem Gesamtaufbau zuträglicher ist. Zusätzlich zu den genannten Versuchswänden wird ein begrünbares, drehbares Lamellensystem als grüner Sonnenschutz und somit Sonderform der Vertikalbegrünung in einem Ringversuch mit der LVG Erfurt und der HS Anhalt in Bernburg untersucht.
Auch die feinstaubbindende Wirkung der verschiedenen Klimafassaden soll untersucht werden, um zu überprüfen, wie realistisch z. B. die Modellberechnungen von PUGH et al. (2012) sind. Diese geben in ihrer Arbeit an, dass innerhalb von Straßenschluchten durch das Vorhandensein einer Vertikalbegrünung eine Verringerung der PM10-Konzentrationen (Feinstaubfraktion, aerodynamischer Durchmesser < 10 µm) um 60 % möglich ist. Doch lassen sich ähnlich große Einflüsse der Vertikalbegrünung auf Feinstaubkonzentrationen auch direkt am Gebäude messen? Das soll an der "Klima-Forschungs-Station“ herausgefunden werden.
Eine ausführliche Beschreibung und weiterführende Hinweise enthält der Fachartikel.